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Die Poesie gewinnt

Ein Dichter sieht das, was wir nicht sehen können - die goldene Krone der höchsten Schönheit und den goldenen Thron der der tiefsten Schönheit.

Ein Dichter fühlt, was wir nicht fühlen können - Einssein mit den Sorgen der Ewigkeit und Einssein mit den Freuden der Unendlichkeit.

Man sagt, zum Dichter würde man geboren, nicht gemacht, das ist ganz und gar nicht wahr. Das kann ich selbst bezeugen. Viele erhabene Dichter waren am Vorabend ihres Dichtkunst-Abenteuers zu sentimental.

Auch gibt es viele spätberufene Dichter. Wir wissen nicht, wie und wann Gottes Mitleids-Auge auf sie herabkommt.

Zwar sind Dichtkunst und Armut eng befreundet, aber Armut hat ihren eigenen Charme. Um diesen Charme zu spüren, braucht es einen anderen Herzens-Atem. Nur ein Dichter kann einen solchen Herzens-Atem für sich beanspruchen. Manchmal kann äußere Armut strahlender Ausdruck innerer Reinheit sein.

Die Dichtkunst und das Unsichtbare sind gute Freunde. Die Dichtkunst und das Unsichtbare bewundern einander gegenseitig. Die Dichtkunst und das Unsichtbare fliegen, tauchen und laufen im vollkommenen Einsseins-Herzen.

Wenn ein Dichter in tiefer Versenkung dasitzt, wer will dann sagen, in welches Reich seine Gedanken abschweifen? Lord Byron sagt: "Nur der Müßiggänger sollte sich mit der Dichtkunst beschäftigen." Aber was ihn selbst angeht, so ließ er seine Musestunden nicht ungenutzt verstreichen. Selbst in Stunden der Muse kann das Inspirations-Versprechen der Begeisterung hervorbrechen. In Don Juan schreibt Byron beispielsweise:

"Die Berge blicken auf Marathon - Und Marathon blickt auf das Meer; Und als ich dort alleine eine Stunde zubrachte, Träumte ich davon, dass Griechenland noch frei sei."

Wenn der gegenwärtige Verstand in den Schoß der Vergangenheit eintritt, neigen wir dazu, die Vergangenheit zu verherrlichen, wenn wir uns jedoch in der Gegenwart befinden, gehen wir humorvoll oder verächtlich mit ihr um:

In der Geschichte ist ein Dichter göttlich, aber der Dichter nebenan ist ein Witz. - Max Eastman.

In der Tat schlummert in jedem Menschen ein Dichter. Ich stimme Joubert zu:

"Die Dichtkunst gibt es nicht, es sei denn, du trägst sie in dir."

Wir müssen selbst ein wenig Sinn für Poesie haben, um sie schätzen und bewundern zu können.

Poesie und Wahrheit sind untrennbar miteinander verbunden. Dichter heißt im Sanskrit "kavi". Kavi bedeutet "derjenige, der eine Vision hat". Welche Vision hat er? Er stellt sich die Wahrheit in Samengestalt vor. An dieser Stelle möchte ich nochmals Joubert zitieren. Seine erhabene Erkenntnis ist folgende:

"Durch die Dichtkunst erlangt man die Wahrheit; ich erlange die Dichtkunst durch die Wahrheit."

Ich war mein Leben lang ein Dichter und auch ein Träumer der Wahrheit. In meinem Herzen fühle ich, dass diese beiden Spieler - der Dichter und der Träumer - zugleich austauschbar und untrennbar sind. Daher habe ich vor vielen Jahren am Vorabend meiner Dichter-Reise geschrieben:

Erhebe dich, erwache, O Freund meines Traums. Erhebe dich, erwache, O Atem meines Lebens. Erhebe dich, erwache, O Licht meiner Augen. O Seher-Dichter in mir, manifestiere dich in mir und durch mich.

Was ist meine Dichtkunst und was erwarte ich eigentlich von meiner Dichtkunst?

O meine Dichtkunst, Du bist der Lotus meines Herzens. Du bringst Nektar-Licht vom Himmel in mein Herz. Wenn mein Leben mit dem Fluss der Sorgen und seinen zahllosen Wogen dahinfließt, Möge deine magische Berührung mich in den Wassern des Befreiungs-Meeres verbergen.

An dieser Stelle möchte ich die Worte eines gewissen Dichters zitieren. Sein Name hat die Geschichte nicht überdauert, aber dieser Schleier der Anonymität schmälert nicht das eigentlich Unsichtbare eines wahren Dichters. Nicht wir, sondern Gott schreibt in und durch uns Gedichte.

"Jedes Mal, wenn du eine Blume pflückst, oder auf einem Hügel Veilchen sammelst, oder du ein Blatt berührst oder einen Baum pflanzt, flüstert Gott, "Ich bin es."

Ich möchte mit Ihnen etwas teilen, das in meinem Leben von überragender Wichtigkeit ist. Ich kann nicht umhin, einige erhabene Worte aus dem Gedicht "Obsternte" von Indiens größtem Dichter Rabindranath Tagore wiederzugeben:

"Den Vögeln gabst du Lieder, die Vögel haben dir im Gegenzug ihren Gesang geschenkt. Mir gabst du nur eine Stimme, und doch batest du um mehr, und so singe ich."

Da ich sowohl ein Schriftsteller der Verstandes-Prosa und der Herzens-Poesie bin, habe ich in meinem Leben eine erhabene Entdeckung gemacht: immer, wenn mein Prosa-Verstand und mein Poesie-Herz einen Wettlauf zu Gottes Goldenem Palast antreten, trägt mein Dichter-Herz unweigerlich den Sieg davon. Wie und weshalb? Weil mein Dichter-Herz im Gegensatz zu meinem Prosa-Verstand das Wirklichkeits-Existenz-Leben des Unsichtbaren sieht.