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Gut und Böse

Am Anfang war nichts als Stille und unendliches Licht. Im Zuge der Schöpfung bekam jeder Mensch ein begrenztes Maß an Freiheit; doch wir missbrauchten diese in solch einem Ausmaß, dass wir in gewisser Weise unsere eigene Welt der Unwissenheit, der Unbewusstheit und der negativen Kräfte erschufen. Wir sind wie eine Kuh, die mit einem Strick an einen Baum gebunden ist. In dem beschränkten Radius, der ihr bleibt, läuft sie herum und zertrampelt alles, was sich in ihrer Reichweite befindet.
Das Böse befindet sich in unserem Verstand, nicht in unserem emporstrebenden Herzen. Der Verstand möchte die Welt Stück für Stück auskosten. Das Herz möchte die ganze Welt als eine Einheit umarmen. Es fühlt, dass ihm die ganze Welt gehört, während der Verstand in „mein“ und „dein“ unterteilt. Je mehr er unterteilen kann, desto größer ist seine Freude. Das Böse ist ein Gefühl von Getrenntheit. Wo Verbundenheit herrscht, gibt es nichts Böses. Wenn wir Liebe, guten Willen und ein Gefühl des Einsseins besitzen, werden wir versuchen, die ganze Welt zu umarmen, anstatt sie zugrunde zu richten.
Es ist immer die gleiche alte Geschichte: Ungehorsam. Wenn wir dem inneren Gesetz gehorchen, geschieht uns nichts. Missachten wir es jedoch, so ist dies die Geburtsstunde des Bösen. Wenn wir unsere Freiheit richtig nützen, bewegen wir uns auf das Göttliche, auf das Licht zu. Missbrauchen wir sie hingegen, entfernen wir uns vom Göttlichen und werden selbst zu einer negativen Kraft.
Es lag nicht in Gottes Absicht, dass es diese negativen Kräfte geben sollte, aber viele Dinge geschehen in dieser Welt, die einfach nur geduldet werden. Doch es ist ein großer Unterschied, ob etwas voll und ganz gutgeheißen oder lediglich geduldet wird. Was können Eltern tun, wenn sie schlimme, ungehorsame Kinder haben? Sie dulden ihr Benehmen einfach. Wir alle sind Gottes Kinder. Manche von uns sind tugendhaft, manche ungezogen. Aber Gott hatte nie beabsichtigt, eine schlechte Schöpfung hervorzubringen.
Gott ist allgegenwärtig. Er ist im Guten wie auch im so genannten Bösen. Den Tiger, der mich verschlingen möchte, empfinde ich als böses Wesen. Doch Gott ist auch im Tiger gegenwärtig. Alles entwickelt sich weiter, um zu einer größeren Offenbarung Gottes zu werden. Gott weilt immer in jedem Menschen oder Gegenstand, auf welchem Entwicklungsstand sich diese auch immer gerade befinden mögen.
Gerade trinke ich ein Glas Wasser. Es ist gutes Wasser. Aber Wasser kann auch verunreinigt, schal oder trüb sein. Gott wohnt unreinem Wasser genauso inne wie reinem Wasser; dennoch trinke ich kein verunreinigtes Wasser, weil ich weiß, dass es meinem Körper schaden wird.
Spirituelle Menschen, die meditieren, suchen Gott auf einer bestimmten Bewusstseinsebene. Sicher wohnt Gott auch schlechten Dingen inne, aber wir wollen uns nicht zurück ins Tierreich und auf niedere Bewusstseinsebenen begeben, um nach Gott zu suchen.


Wollen Sie damit sagen, dass Gott nicht nur gut ist, sondern im Guten wie im Bösen wohnt?

Sri Chinmoy: Ja. Gott wohnt dem Guten wie dem Bösen inne und steht gleichzeitig über beiden. Es ist wie bei einem Baum. Sagen wir, das Böse sind die Wurzeln und das Gute sind die Äste. Im Grunde genommen sind sie jedoch eins; sie sind Teil desselben Baumes. Das Böse ist eine niedrigere und das Gute eine höhere Erscheinungsform der Wahrheit. Es gibt keine Nacht ohne Licht; selbst in der schwärzesten Nacht gibt es zumindest noch ein Fünkchen von Licht. Gott jedoch ist in beiden und steht doch über ihnen, so wie sich der Himmel über dem Baum erstreckt.
Zu behaupten, Gott existiere nicht auch im Bösen, bedeutet, die Allgegenwart Gottes zu verneinen, und das wäre wie zu sagen, dass Gott nicht Gott sei. Gott wohnt beiden inne, aber Er ist nicht an sie gebunden. Er ist wie ein Boot, das sich im Wasser befindet und gleichzeitig auf ihm liegt.
Streng genommen gibt es aus spiritueller Sicht so etwas wie Gut und Böse gar nicht. Das Böse existiert nur in der Welt des Verstandes. Was wir als böse bezeichnen, ist nur eine geringere Form der Wahrheit oder Unvollkommenheit, die sich zu einer höheren Wahrheit oder vollkommeneren Wirklichkeit hin entwickelt.


Wenn ich tief nach innen tauche,
erblicke ich kein Dickicht
der Unvollkommenheit –
ja nicht einmal einen Farn
der Schwierigkeit,
sondern nur das Lächeln
der Vollkommenheit
und den Tanz
der Erfüllungs-Glückseligkeit.


Ich verstehe nicht, wie etwas von Gott Geschaffenes unvollkommen sein kann. Wie kann Gott eine zu Beginn unvollkommene Seele erschaffen und dann sagen: „So, gehe jetzt deinen eigenen Weg. Entwickle dich weiter, so gut du kannst!“

Sri Chinmoy: Gott wirft die Seele nicht herzlos in die Welt der Manifestation. Die Seele ist nie allein: Gott selbst wohnt stets in ihr. Wir stammen von Gott ab und sind ein Teil von Ihm. Doch wo bleibt unsere Verwirklichung, wo unsere Vollkommenheit? Wir befinden uns in einem fortlaufenden Entwicklungsprozess, um diese Verwirklichung und Vollkommenheit bewusst zu erlangen. Jeder Mensch verkörpert Gott, aber nicht jeder hat Ihn schon bewusst verwirklicht.
Der absolute Gott, das höchste Selbst, ist vollkommen. Der Höchste, der Eine ohne ein Zweites, der Gott, der die Vielfalt erschaffen hat, ist immer vollkommen. Jener Gott jedoch, der zum Zwecke der Evolution auf die irdische Ebene herabgekommen ist, hat die Unvollkommenheit auf sich genommen, indem Er das Erdbewusstsein angenommen hat, welches voller Beschränkungen und Unvollkommenheiten ist.


Glauben Sie an die Sünde?

Sri Chinmoy: Was andere Sünde nennen, bezeichne ich als Unvollkommenheit. Wir sind von Gott geschaffen, der reine Liebe, reine Glückseligkeit ist. Sobald es uns gelingt, den Schleier der Unwissenheit von unserem Bewusstsein zu ziehen, werden wir sogleich in die Welt der Vollkommenheit eintauchen. Dort gibt es so etwas wie Sünde nicht. Sünde existiert in unserem Verstand; sie kann niemals unsere Seele beflecken. Was ist Sünde? Etwas, das uns bindet und wie eine Gefängniszelle einschränkt. Und was ist Glückseligkeit? Die grenzenlose Freiheit der Vollkommenheit.


Vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet, bezeichnen wir das, was manche Menschen Sünde oder das Böse nennen, als Unwissenheit – das ständige Spiel von Maya, der Täuschung. Wer in dieses Spiel verstrickt ist, unterscheidet sich von einer befreiten Seele, die sich von diesen Trugbildern der Wirklichkeit losgelöst hat. Durch Meditation können wir uns von der Unwissenheit und von der Illusion befreien und unsere irdische Natur in unsere göttliche Natur umwandeln.


Die fröhliche Bereitschaft deines Herzens,
Gottes Willen zu gehorchen,
wird die Jahrtausende währende
Unwissenheit deines Verstandes
fortspülen.


Was meinst Du mit Unwissenheit?

Sri Chinmoy: Mit einem kurzen Satz ausgedrückt, bedeutet Unwissenheit begrenztes Bewusstsein. Wenn wir in das unbegrenzte Bewusstsein eintauchen, verschwindet die Unwissenheit.
In dieser Welt gibt es Licht, reichliches Licht, unbegrenztes Licht und unendliches Licht. Wenn wir die Unwissenheit als Zerstörung ansehen, so täuschen wir uns. Wir müssen erkennen, dass das, was wir Unwissenheit nennen, aus begrenztem Licht besteht. Auch in der finstersten Nacht ist ein wenig Licht vorhanden; ansonsten könnten wir gar nicht existieren. Verglichen mit seinem älteren Bruder ist ein Kind natürlich unwissend. Dennoch trägt es auch schon etwas Licht in sich.
Was wir Unwissenheit nennen, ist in Wahrheit also nur eine andere Form von Licht. Ich, du, er und sie besitzen als einzelne Menschen ein begrenztes Maß an Licht –verschwindend wenig Licht im Vergleich zu Gott, der unendliches Licht verkörpert. Durch unser Gebet und unsere Meditation jedoch wachsen wir in Gottes grenzenloses, unendliches Licht hinein und werden zu allem, was Gott hat und was Gott ist.
Was wir Unwissenheit nennen, ist nichts anderes als eine Erfahrung, die Gott in und durch uns macht. Sobald wir uns der Tatsache bewusst werden, dass wir lediglich Seine Instrumente sind, sind wir nicht mehr durch die Unwissenheit gebunden. Wir erkennen, dass es Jemanden gibt, nämlich unseren Inneren Lotsen, der Sein kosmisches Spiel in und durch uns spielt. Dann gibt es für uns weder Unwissenheit noch Licht, sondern nur noch den Supreme, der alles ist. Er ist der Handelnde, Er ist die Handlung, Er ist das Ergebnis. Er ist alles. Wenn wir jedoch das Gefühl haben oder meinen, dass wir alles selbst tun, so machen wir einen riesengroßen Fehler.


Die Zeit wird kommen,
da jeder Mensch,
erfüllt vom Mut seiner Seele,
den Stolz der Unwissenheitsnacht
brechen wird.


Sie sprechen von Nacht und Licht. Glauben Sie, dass manche Teile des Lebens dunkel und unvollkommen sind?

Sri Chinmoy: Das Leben besteht aus Vollkommenheit, aber man kann sagen, dass es geringere und größere Vollkommenheit gibt. Wir können nicht eine Seite als weiß und die andere als schwarz bezeichnen, sondern lediglich sagen, dass auf einer Seite vergleichsweise weniger Licht vorhanden ist. Daher gibt es nichts Negatives und Positives, sondern nur Positives. Die Sache, die weniger positiv ist, besitzt jedoch geringere Fähigkeiten und wird manchmal als negativ bezeichnet.


Ich habe einmal gelesen, dass man nicht wirklich frei ist, wenn man sich für das Böse entscheidet. Ich hielt das damals für eine interessante Auffassung. Könntest Du mich diesbezüglich aufklären?

Sri Chinmoy: Zuerst müssen wir wissen, was das Böse ist. Was immer uns einschränkt, was immer uns bindet, ist böse. Das Böse kommt zu uns in Form von Vergnügungen und wenn wir uns auf diese Vergnügungen einlassen, sind wir gefangen. Das Böse möchte uns zu seinen Werkzeugen machen, um uns für seine Zwecke zu gebrauchen. Es gibt uns das Gefühl, hilflos und unwissend zu sein, und das ist dann auch der Grund, warum wir das Böse annehmen.
Manchmal mögen wir in unserem äußeren Leben unfrei sein, aber in unserem inneren Leben besitzen wir ein großes Maß an Freiheit. Selbst in einer Gefängniszelle können wir beten und Konzentration und Meditation üben. Wenn jedoch das Böse von uns Besitz ergriffen hat, verlieren wir sowohl unsere innere als auch unsere äußere Freiheit. Dann streben wir unweigerlich nach der Erfüllung unseres Verlangens oder unserer gottlosen Impulse.
Alles besitzt ein eigenes Wesen. Das ureigenste Wesen des Bösen ist es, zu binden; das ureigenste Wesen des Göttlichen ist es, zu befreien. Das Wesen von Skorpionen ist es, zu stechen. Wir können nicht erwarten, dass sie sich anders verhalten. Daher dürfen wir ihnen nicht die Gelegenheit geben, uns zu stechen, und müssen uns immer von ihnen fern halten. Wenn wir uns einem Skorpion nähern, um von unserer Freiheit Gebrauch zu machen, so ist das reine Dummheit. Wir müssen die Notwendigkeit fühlen, uns nur dort aufzuhalten, wo wir befreit und erleuchtet werden, und das ist im Licht.


Wie können wir die negativen Kräfte davon abhalten, in unserem Leben oder dem Leben unserer Lieben aktiv zu sein?

Sri Chinmoy: Es gibt zwei vernünftige Möglichkeiten, dies zu verhindern. Die eine ist durch Konzentration, Meditation und Kontemplation. Wer diese beherrscht, braucht sich nicht mit negativen Kräften abzugeben. Während deiner seelenvollen Meditation kannst du Gott um unbeugsame, spirituelle Stärke bitten. Wenn du diese Stärke in deinem Leben anwenden kannst, werden die negativen Kräfte unweigerlich aus deinem Leben verschwinden.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, die höchste Wahrheit, Gott, in allem zu sehen. Dies ist nur mit dem Licht unserer Seele möglich. Jeder Mensch besitzt eine Seele. Die Seele ist ein winzig kleiner Teil der unendlichen Wahrheit. Sie steht in direkter Verbindung mit dem Göttlichen, dem Transzendenten Wesen. Das Problem besteht darin, dass wir, wenn wir mit jemandem sprechen, nicht mit seiner Seele in Kontakt treten, sondern nur seinen äußeren Körper sehen. Der Körper ist voller Dunkelheit und Unvollkommenheit und deshalb fällt es uns schwer, die Seele dahinter zu erkennen. Lasst uns trotzdem versuchen, die Seele hinter der äußeren Erscheinung eines Menschen zu sehen und mit ihr zu kommunizieren, um so das Licht der Seele zum Vorschein zu bringen.


Wenn wir mit Gott völlig eins geworden sind, sehen wir da noch einen Gegensatz zwischen Gut und Böse?

Sri Chinmoy: Im Zustand des Einsseins mit Gott unterscheiden wir nicht mehr zwischen Gut und Böse. Wenn wir eins mit Gott werden, wird alles zu einer Offenbarung des göttlichen Willens. Aber wenn wir nicht mit Gott eins sind, dann sind wir eine Sekunde lang bei Gott und in Gott und dann sind wir eine Stunde lang in uns selbst – in unserem eigenen Vitalen, in unserem eigenen physischen Bewusstsein. In diesem Fall wird es immer ungöttliche und göttliche Kräfte in uns und um uns herum geben. In unserer höchsten und tiefsten Meditation jedoch verschwindet der Gegensatz von Gut und Böse, denn dort sind wir eins mit der Transzendenten Wirklichkeit, die über alle menschlichen Vorstellungen von Gut und Böse, Göttlich und Profan hinausgeht.


Vertrauen
glaubt alles, was wir sagen;
Glaube
kann das Vertrauen stärken.
Glaube ist rein;
Vertrauen ist fest.
Glaube blickt um sich,
um die Wahrheit zu erkennen;
Vertrauen
blickt nach innen,
um die Wahrheit
nicht nur zu fühlen,
sondern um auch zur Wahrheit
zu werden.