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Religion und Spiritualität

Gott ist ein Ganzes, gleichzeitig ist er aber auch mannigfaltig. Ein Baum ist eine Einheit und besitzt doch so viele Äste. Wenn du einen Ast betrachtest, hast du das Gefühl, den Baum zu sehen. So mag auch Gott aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf verschiedene Arten gesehen werden, und doch handelt es sich um ein und derselben Gott. Alle Religionen sind Teil eines einzigen Gottesbaumes. Dieser Gottesbaum hat viele Äste, Blüten und Früchte. Wenn du auf einen Baum kletterst und dich auf einem bestimmten Ast niederlässt, wird dir der Baum darüber nicht böse sein. Und genauso freut sich der Gottesbaum über jede Blüte und jede Frucht, die du - von welchem Ast auch immer – pflückst, denn jeder Ast ist ja ein Teil des Baumes.


Gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen den Religionen?

Sri Chinmoy: Es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen den Religionen, da jede Religion die letzte Wahrheit verkörpert. Jede Religion hat vollkommen Recht, da sie die Botschaft der Wahrheit auf ihre Weise vermittelt. Es gibt nur eine Wahrheit, doch wird sie von verschiedenen Menschen unterschiedlich bezeichnet. Deine Religion mag das eine sagen und meine vielleicht etwas anderes. In Bezug auf die höchste Wahrheit jedoch werden sich unsere Religionen niemals uneinig sein.
Letztendlich verfolgen alle Religionen dasselbe Ziel: die höchste Wahrheit zu verwirklichen. Auf dem Weg zu unserem Ziel mag es dabei zwischen uns zu Missverständnissen kommen. Weshalb? Eben deshalb, weil viele Wege zum Ziel führen. Manche Menschen folgen diesem Pfad, manche einem anderen. Jeder Weg wird ihnen dabei Inspiration schenken. Der eine hält einen bestimmten Weg für den besten, da er ihm zusagt. Ein anderer wiederum meint, sein Weg sei bei weitem der beste. Nachdem jedoch beide Menschen an ihr Ziel gelangt sind, werden sie am selben Ort angekommen sein: der Wahrheit. In der Wahrheit liegt kein Widerspruch. Wahrheit oder Gottverwirklichung geht über alle Religionen hinaus.


Gott hat viele Wege erschaffen,
die zu Ihm führen,
da Er jeden Menschen
auf dessen eigene Weise
zufrieden stellen will,
so wie auch Er selbst
auf Seine eigene Weise
zufrieden gestellt werden möchte.


Was sind die Qualitäten einer wahren Religion?

Sri Chinmoy: Es gibt zwei Arten von Religion: falsche und wahre Religion. Die falsche Religion möchte das Antlitz der Welt mit allen Mitteln verändern, sei es auch durch unlautere Methoden. Die wahre Religion möchte nur das Herz der Welt seelenvoll lieben. Sie hat universellen Charakter und sie hat an anderen Religionen nichts auszusetzen. Eine falsche Religion behauptet, die einzig gültige Religion zu sein, und dass ihr Prophet der einzige Retter sei. Eine wahre Religion erkennt, dass alle Propheten Retter der Menschheit sind.
Eine falsche Religion möchte anderen Religionen himmelhoch überlegen sein. Eine wahre Religion begegnet anderen Religionen mit Wohlwollen. Sie möchte die auf ihrer seelenvollen, glühenden Sehnsucht gründende verzückende Erfahrung der Einheit mit allen Religionen machen. Sie möchte mit allen Religionen auf Grund ihrer Toleranz, Geduld, Güte und Vergebung untrennbar eins werden. Vergebung, Mitgefühl, Toleranz, Brüderlichkeit und das Gefühl von Einssein sind die Kennzeichen einer wahren Religion. Gleichzeitig ist sich eine wahre Religion jedoch auch bewusst, dass es der Erhabene Lenker selbst ist, der jede einzelne Religion liebt und führt und ihnen all die Fehler und Schwächen verzeiht, vor denen leider keine Religion gefeit ist.
Eine wahre Religion wird die Menschheit mit all ihren Fehlern über Jahrhunderte hinweg lieben. Und auf Grund ihrer Einsseinsliebe wird sie versuchen, eine neue Welt zu erschaffen – nicht mit Gewalt, nicht indem sie anderen etwas aufzwingt, sondern indem sie mit anderen untrennbar eins wird.
Eine wahre Religion besitzt die Fähigkeit, ihren Anhängern die unsichtbare Wahrheit zu zeigen. Eine wahre Religion besitzt die Fähigkeit, ihre Anhänger die unvorstellbare Liebe Gottes spüren zu lassen. Eine wahre Religion besitzt die Fähigkeit, ihren Anhängern die unerreichbar scheinende Wirklichkeit zu gewähren: innere und äußere Vollkommenheit.


Verehren nicht alle Religionen ein und denselben Gott?

Sri Chinmoy: Es gibt einen über allem stehenden, absoluten Supreme. Alle religiösen Glaubensrichtungen verehren denselben Gott, haben aber verschiedene Namen für Ihn. Ein Mann wird von seinem Kind „Vater“, von seinem Bruder „Bruder“ und von seinem Neffen „Onkel“ genannt. Im Büro spricht man ihn mit seinem Nachnamen an, im Freundeskreis mit seinem Vornamen. Es handelt sich um ein und dieselbe Person, aber diese wird bei unterschiedlichen Namen genannt, je nach dem Verhältnis, das andere zu ihm haben. Genauso wird auch der Supreme bei verschiedenen Namen genannt, je nachdem, welcher Name das süßeste, herzlichste Empfinden in uns hervorruft.


Was halten Sie von jenen religiösen Splittergruppen, die andere Splittergruppen im Namen Gottes bekämpfen?

Sri Chinmoy: Es stimmt mich sehr traurig, wenn religiöse Splittergruppen im Namen Gottes miteinander streiten und sich bekriegen. Würden sie Gott wahrhaftig lieben, dann würden sie niemanden in Seinem Namen umbringen. Liebe bedeutet Einssein. Wenn wir eins sind, wie können wir uns da bekämpfen? Wir kämpfen nur, weil wir für andere keine Liebe empfinden, weil wir unsere Unwissenheit noch nicht in die Wirklichkeit des Einsseins umgewandelt haben.
Unser eigenes Wesen besteht aus vielen Teilen – dem Körper, der Lebenskraft, dem Verstand, dem Herzen und der Seele; und wir betrachten sie alle als unser Eigen. Auch unser Körper besteht aus vielen Körperteilen, aber wenn wir etwas erreichen wollen, müssen alle Teile zusammenarbeiten. Genauso können und sollen auch alle Religionen zusammenarbeiten, wenn wir für die Menschheit etwas Gutes tun wollen.
Da wir alle denselben Ursprung haben, haben wir letztendlich auch alle dasselbe Ziel. Und da ohnehin „alle Wege nach Rom führen“ und wir letztlich alle auf dem Weg zurück zu unserem gemeinsamen Ursprung sind, ist es lächerlich, andere zu bekriegen, nur weil sie einem anderen Weg folgen. Manche entscheiden sich für einen sehr kurzen und direkten Weg, während andere eine längere Route wählen. Einige wollen fliegen, während sich andere damit begnügen, zu Fuß zu gehen.
Wenn alle Religionen zusammenarbeiten, dann können sie Großartiges für Gott und die Menschheit erreichen. Es sind die vereinten Gebete jener Anhänger aller Weltreligionen, die guten Willens sind, welche die höchste Liebe und das höchste Erbarmen von oben herab bringen werden. Und einzig Gottes Liebe und Erbarmen, die in die Herzen und in das Leben der Menschen herab kommen, können das Antlitz der Welt und ihr Schicksal verändern.


Wie können die Religionen ihre manchmal starren Sichtweisen hinter sich lassen und erkennen, dass alle Religionen wahr und notwendig sind?

Sri Chinmoy: Religion als solches kann solche starren Sichtweisen nicht überwinden. Nur wenn die Religion Hilfe von ihrem älteren Bruder, der Spiritualität, annimmt, wird es ihr möglich sein, diese starren Sichtweisen aufzugeben. Religion erkennt Gott, doch Spiritualität lässt den Sucher zu Gott werden. Religion kann an das Licht glauben oder das Licht sogar erkennen, aber Spiritualität geht noch viel weiter, viel tiefer. Sie hilft dem Sucher, in dieses Licht hineinzuwachsen und mit dem Gottesbewusstsein und dem Gotteslicht eins zu werden.
Religion hört beim Erkennen der Wirklichkeit auf; sie versucht nicht, zu dieser Wirklichkeit zu werden. Spiritualität erkennt ebenso wie Religion die Wirklichkeit, aber sie geht einen Schritt weiter, indem sie versucht, bewusst in diese Wirklichkeit hineinzuwachsen. Wenn die Religion also Hilfe von der Spiritualität annimmt, so ist es gut möglich, dass sie alle starren Sichtweisen hinter sich lassen kann.

Spiritualität bedeutet nicht einfach nur Toleranz; sie bedeutet nicht einmal Akzeptanz. Spiritualität ist das Gefühl universellen Verbundenseins oder Einsseins. In unserem spirituellen Leben sehen wir das Göttliche nicht nur im Gewand unseres eigenen Gottes, sondern auch in der Gestalt des Gottes aller anderen. Unser spirituelles Leben errichtet die solide Grundlage der Einheit in der Vielfalt. Spiritualität bedeutet nicht bloß, dem Gottesglauben anderer gegenüber aufgeschlossen zu sein; sie bedeutet die vorbehaltlose Anerkennung des Glaubens anderer Menschen und dessen Annahme als unser Eigen.


Religion sagt:
„Wenn du mich auf
meine Weise annimmst,
bist du ein guter Mensch.“
Spiritualität sagt:
„Du brauchst nicht
meinem Pfad zu folgen.
Gehe nur seelenvoll
deinen eigenen Weg
und gelange so an dein
dir bestimmtes Ziel.“


Was gefällt Gott an einer Religion am besten?

Sri Chinmoy: Was Gott an jeder Religion am besten gefällt, ist ein Einsseinsherz. Zuerst sollte jede Religion die anderen Religionen tolerieren. Sobald ein Klima der Toleranz zwischen den Religionen herrscht, können sie den nächsten Schritt machen: auch andere Religionen anzuerkennen. Aber auch das reicht noch nicht aus. Jede Religion sollte der aufrichtigen Überzeugung sein, dass andere Religionen genauso gut sind wie sie selbst, dass jede Religion auf ihre Weise Recht hat und dass alle Religionen gleichwertig sind. Man kann andere nur so lange tolerieren, als man sich von ihnen noch getrennt fühlt. Sobald eine Religion andere Religionen gebührend schätzt und sie als unterschiedliche Erscheinungsformen der Wahrheit betrachtet, kann sich diese Religion hoch, höher, am höchsten emporschwingen und tief, tiefer, am tiefsten tauchen. Wenn sie ihr Einssein mit allen anderen Religionen erkennt und dieses Einssein bewusst etabliert, kann sie wahrhaftig verkünden, dass es in Wahrheit nur eine Religion gibt. Erkennt nun eine Religion, dass alle Religionen eine ewige Religion, ein ewiges Auge der Wahrheit und ein ewiges Herz der Wahrheit bilden, dann ist diese Religion vollkommen. Diese Entdeckung und Errungenschaft gefällt Gott an allen Weltreligionen am besten.


Erzähle ich dir von Gott,
so glaubst du mir nicht.
Erzählst du mir von Gott,
so glaube ich dir nicht.
Welchen Sinn hat es also,
uns über Gott zu unterhalten?
Das Beste wird sein,
wir bitten Gott zu Wort;
denn Er ist der einzige,
der von Sich
mit innerer Erleuchtung und
äußerem Mitleid erzählen kann.


Welche Rolle spielt Religion auf dem Weg zur Gottverwirklichung?

Sri Chinmoy: Jede Religion ist wie ein Haus. Zu Beginn musst du in einem Haus wohnen; du kannst nicht auf der Straße leben. Doch es kommt eine Zeit, da sich dein Bewusstsein ausdehnt und die ganze Welt zu deinem Zuhause wird. Dann können dich die vier Wände eines Hauses nicht mehr binden. Du wirst alle Religionen annehmen und gleichzeitig den Bereich der Religion verlassen und mit Gott bewusst eins werden. Jede Religion ist wie ein Fluss. Sobald er in das Meer der Gottverwirklichung mündet, hat er seine Rolle gespielt. Dann wird der Fluss zum Ozean selbst; er ist mit der Quelle verschmolzen. Wenn du einer Religion nachfolgst, befindest du dich zwar auf dem Weg zu deinem Ziel; willst du jedoch zur höchsten Wahrheit gelangen, so musst du Konzentration, Meditation und Kontemplation üben. Das bedeutet nicht, dass du aufhören sollst, in deine Kirche oder Synagoge zu gehen. Aber wenn du in deinem Herzen den inneren Ruf vernimmst, schnell und immer schneller deinem Ziel entgegenzulaufen, so musst du das innere Leben, das Leben der Selbstdisziplin und Meditation praktizieren.
Religion wird uns sagen, dass es einen Gott gibt. Sie wird uns dazu anhalten, gut, freundlich, einfach, aufrichtig und rein zu sein. Spiritualität jedoch sagt uns, dass es nicht genügt, um die Existenz Gottes zu wissen; wir müssen Ihn auch sehen, fühlen und in Ihn hineinwachsen. Das gelingt uns durch Gebet und Meditation.