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Schicksal oder freier Wille?

Schicksal ist das Resultat der Vergangenheit; freier Wille ist das Resultat der Gegenwart. Blicken wir zurück, spüren wir die Schläge des Schicksals; blicken wir nach vorne, beobachten wir den Tanz des goldenen, Kraft spendenden freien Willens.
Das physische Bewusstsein oder Körperbewusstsein ist begrenzt. Leben wir im Körper, so erfahren wir das Schicksal. Die Seele hingegen ist immer frei. Leben wir in der Seele, so erfahren wir den freien Willen. Es bleibt uns überlassen, ob wir im Körperbewusstsein oder im Seelenbewusstsein leben wollen.
Von dem Moment an, an dem die Seele in den Körper eintritt und wir das Licht der Welt erblicken, versucht die Unwissenheit, uns zu umgarnen, und das Schicksal beginnt sein Spiel. Das Licht jedoch lässt sich von Schicksal nicht binden. Licht ist die Verkörperung des freien Willens. Für unser bedauernswertes Schicksal verfluchen wir unsere Vorväter, unsere Freunde, unsere Nachbarn, uns selbst und schließlich auch Gott. Aber wir können unsere Probleme nicht lösen, indem wir andere und uns selbst verfluchen. Unsere Probleme können wir nur lösen, wenn wir ein Leben der spirituellen Strebsamkeit führen.
Wir erhalten reichlich Gelegenheit, unseren freien Willen zu gebrauchen. Wir selbst sind es aber auch, die diese Gelegenheiten nützen müssen, um vollständig und uneingeschränkt frei zu sein. Häufig beklagen sich Sucher bei mir, dass ihre Vergangenheit äußerst unbefriedigend gewesen sei. Ich antworte ihnen: „Was kümmert euch die Vergangenheit? Die Vergangenheit ist Staub. Aber wenn ihr spirituell strebt, kann euch niemand eurer Gegenwart oder eurer Zukunft berauben. Eure Zukunft kann leicht strahlend werden.“
Unser freier Wille ist ein Kind von Gottes unendlichem Willen und gleichzeitig ist er ein Teil davon. Wir müssen ihm nur erlauben, die Mauer der Unwissenheit zu durchbrechen und uns mit dem kosmischen Willen zu vereinen. Das Schicksal ist das Tor, das uns zu den Fehlschlägen der Vergangenheit führt. Der freie Wille ist unsere Annahme einer Zukunft, die uns verwandeln, formen, leiten und von Angst, Zweifel, Unwissenheit und Tod befreien will.


Gib deinen Willen nicht
deinem bedauernswerten Schicksal hin!
Gib deinen Willen nur
Gottes alles liebendem,
schützendem, erleuchtendem
und erfüllendem Herzen hin.


Ist Schicksal dasselbe wie Karma?

Sri Chinmoy: Es gibt drei Arten von Karma: sanchita karma, prarabdha karma und agami karma. Sanchita karma ist eine Ansammlung von Handlungen aus diesem Leben und auch aus früheren Leben, die noch keine Früchte getragen haben. Beim prarabdha karma beginnen wir die Auswirkungen unserer früheren Handlungen bereits zu spüren. Ist es schlechtes Karma, leiden wir; ist es gutes Karma, genießen wir es. Zu guter Letzt gibt es agami karma. Wer von Unwissenheit, Leiden und Unvollkommenheit völlig frei ist, wer Gott verwirklicht hat und nur noch für Gott lebt, der erfreut sich des freien Willens des Supreme. Das ist mit agami karma gemeint.
Die meisten von uns sind mit sanchita karma konfrontiert, angesammeltem Karma, das sich als prarabdha karma auszuwirken beginnt. Wohin wir auch blicken – wir sehen keine Freiheit, keinen freien Willen, sondern nur das Schicksal. Es ist wie ein reißender Löwe, der uns aus der Vergangenheit heraus angreift. Besitzen wir jedoch agami karma, so wird dieser reißende Löwe zu einem brüllenden Löwen, brüllend für den göttlichen Sieg, für die göttliche Erfüllung hier auf Erden.


Ernten wir wirklich alles, was wir säen – das Resultat jedes einzelnen Gedankens, jeder Tat?

Sri Chinmoy: Wie man sät, so erntet man; das ist wahr. Betest du aber zu Gott und meditierst auf Ihn, so kann Gottes Mitleid die negativen Kräfte eliminieren, die du mit deinen schlechten Gedanken heraufbeschworen hast. Wenn du ins Feuer greifst, verbrennst du dir daran natürlich deine Finger. Gleichzeitig gibt es aber auch eine Kraft, die versuchen wird, dich davon abzuhalten.
Wenn ein Kind ein anderes Kind schlägt, erwartet es, dass das andere Kind zurückschlagen wird. Was macht das Kind also? Es läuft eiligst zu seinem Vater. Der Vater ist stärker als das Kind und beschützt es. In unserem Beispiel ist der Supreme der Vater. Wenn du dich auf die Unwissenheit einlässt und dich diese dann verschlingen will, du aber vorher zu deinem Vater läufst, wird der Vater größtes Mitleid zeigen und dich vor der Unwissenheit retten. Es hängt nur davon ab, wie viel Mitleid du vom Supreme empfangen kannst.


Wann hebt Gottes Mitleid das Gesetz des Karmas auf?

Sri Chinmoy: Gottes Mitleid behält zu jeder Zeit die Oberhand über das Gesetz des Karmas. Wäre es anders, könnte kein Mensch auch nur einen einzigen Tag auf der Erde überleben. Allerdings solltest du wissen, dass das Gesetz des Karmas, vom höchsten spirituellen Blickwinkel aus gesehen, nicht strenge Bestrafung bedeutet. Es schenkt dem Sucher notwendige Erfahrungen, die der einzige Weg sind, um dessen Fortschritt zu beschleunigen. Darum ist das Gesetz des Karmas an sich nur eine weitere Form von Gottes Mitleid. Man könnte es als verborgene segensreiche Liebe bezeichnen.


Was ist das Schicksal anderes
als begrenzte Wirklichkeit?
Ein Wahrheitssucher muss immer
nach der unbegrenzten Wirklichkeit,
dem unendlichen und unsterblichen Supreme
streben.


Ist jedes Ereignis unseres Lebens vorherbestimmt, oder gibt es nur eine generelle Richtung?

Sri Chinmoy: Die bedeutsamsten Ereignisse deines Lebens sind vorherbestimmt, nicht aber, was du morgen frühstücken wirst. Doch selbst wenn es dir bestimmt wäre, dass du morgen sterben wirst, du aber ein spirituelles Leben führst und Gott sieht, dass du aufrichtige Strebsamkeit besitzt, so ist es durchaus möglich, dass du nicht stirbst. Wenn es Gottes Wille ist, magst du stattdessen nur leichtes Kopfweh bekommen. Das Schicksal kann durch den Willen des Supreme geändert werden.
Aus höchster Sicht gibt es nur eines, das unumstößlich vorherbestimmt ist: dass du Gott verwirklichen wirst. Die Unwissenheit mag dich heute davon abhalten, aber du kannst nicht in alle Ewigkeit unverwirklicht bleiben. Lasst uns den Begriff „vorherbestimmt“ nur in positivem Sinne verwenden. Wenn ein Unglück stattfinden soll, kannst du deine Willenskraft, die Kraft deiner spirituellen Strebsamkeit, einsetzen, um dein Schicksal zu ändern. Das Schicksal kann von einem unwandelbaren Willen gewandelt werden.


Welche Rolle spielt der freie Wille des Menschen?

Sri Chinmoy: Der freie Wille ist das Bewusstseinslicht unserer Seele. Wir können das Licht unserer Seele dafür nützen, Gott zu manifestieren, oder aber es brach liegen lassen und gar nicht gebrauchen. Wenn wir es nicht gebrauchen, treten der aggressive Teil unserer Lebenskraft, die Trägheit unseres Körpers oder die Zweifel unseres Verstandes in den Vordergrund und nehmen uns gefangen. Gott vollbringt alles durch die Seele, die Sein direkter Stellvertreter ist. Gott ist wie die Sonne und die Seele ist wie eine Lampe. Diese Lampe verkörpert und vertritt die Sonne hier auf Erden. Leider verbleiben wir für gewöhnlich nicht im Licht der Seele und schöpfen es nicht voll aus, weshalb uns unser freier Wille zur Freundschaft mit der Trägheit, dem zweifelnden Verstand und zu unserer Identifikation mit der Unsicherheit des Herzens führt. Unser freier Wille kann uns entweder sagen, dass der Körper, das Vitale und der Verstand über genügend Licht verfügen, um uns zu leiten, oder aber dass wir ohne die Führung unseres höchsten Herrn hilflos sind.


Wie können wir von unserem freien Willen mehr Gebrauch machen?

Sri Chinmoy: Als durchschnittliche Menschen besitzen wir einen freien Willen nur in sehr beschränktem Ausmaß. Werden wir aber zu aufrichtigen Suchern, so entwickeln wir nach und nach einen eisernen Willen. Heute sind wir wie eine Kuh, die an einen Pfosten gebunden ist. Über einen gewissen Punkt kommen wir nicht hinaus; innerhalb dieses Bereichs jedoch verfügen wir über einen freien Willen. Je höher wir aber aufsteigen oder je tiefer wir in unserer Meditation tauchen, desto größer werden unsere Fähigkeiten.
Wenn wir auf die Anweisungen der Seele hören oder wir die Seele zum Vorschein bringen können, um unser Vitales, unseren Verstand und unseren physischen Körper zu erleuchten, wird unser Wille grenzenlos. Zu diesem Zeitpunkt verschmilzt der eigene Wille mit dem universellen Willen in uns. Sobald der universelle Wille zu unserem eigenen Willen wird, ist unsere Freiheit grenzenlos. Obwohl wir im Augenblick nur in sehr geringem Maße freien Willen besitzen, kann das Maß unbegrenzt gesteigert werden.


Wo bleibt dein freier Wille,
wenn du in deinem
bindenden Verstand lebst?
Wo bleibt dein Gebundensein,
wenn du in deinem
allumfassenden Herzen lebst?


Ist der Wille meiner Seele derselbe wie der Wille Gottes?

Sri Chinmoy: Ja, Gottes Wille und der Wille deiner Seele sind identisch. Wir sollten jedoch zwischen dem Willen unserer Seele und den Impulsen unserer fordernden Lebenskraft unterscheiden. Manchmal verwechseln wir die Verlangen unserer begehrenden Lebenskraft mit dem Willen unserer Seele. Wenn wir tief nach innen tauchen, werden wir den wahren Willen unserer Seele erkennen, und dieser kann nicht vom Willen Gottes getrennt werden. Ist dieser Wille ein Same, der keimt und zu einer Pflanze heranwächst, nennen wir ihn den Willen der Seele; entwickelt er sich zu einer riesigen Eiche, dann nennen wir ihn den Willen Gottes. Dieser Wille wird sich mit der Zeit durch die Seele, das Herz, den Verstand, das Vitale und den Körper manifestieren.


Stehen der Wille des Menschen und der Wille Gottes immer im Widerspruch zueinander?

Sri Chinmoy: Bis zu einem gewissen Grad ist es so. Der Mensch kann dem Willen Gottes unbewusst, aber auch bewusst zuwiderhandeln. Manchmal sagt uns unser Gewissen, was Gottes Wille ist, aber wir schenken ihm keine Beachtung. Wir fürchten, unser Ego würde vielleicht nicht befriedigt werden, wenn wir unserem Gewissen folgen. Dann handeln wir natürlich dem Willen Gottes zuwider. Häufig aber kennen wir ihn einfach nicht. In diesem Fall handeln wir dem Willen Gottes nicht bewusst zuwider und man kann nicht behaupten, dass unser Wille hier im Widerspruch zum Willen Gottes steht.
Dennoch muss uns bewusst sein, dass wir in die Unwissenheit eintauchen und unseren Fortschritt hemmen, wenn wir dem Willen Gottes, sei es nun bewusst oder unbewusst, nicht Folge leisten. Ein Kind mag nicht wissen, wie gefährlich Feuer ist; trotzdem wird es sich die Finger verbrennen, wenn es hineingreift. Ich weiß, dass das Feuer meine Haut verbrennen wird. Aber trotzdem berühre ich es und verbrenne mich daran. Ob man sich dem Willen Gottes nun bewusst oder unbewusst widersetzt: Das Ergebnis ist dasselbe. Wer es aber unbewusst tut, weiß es eben nicht besser und Gottes Gnade kommt eher auf ihn herab.
Kennt jemand hingegen die Auswirkungen seiner Handlung und begeht trotzdem einen Fehler, dann kommt Gottes Gnade nicht sofort herab. In diesem Fall muss der Sucher zuerst wieder vollkommen aufrichtig und ergeben streben, um Gottes Gnade von oben herab zu bringen.


Wie kann irgendetwas außerhalb des Willens des Supreme liegen?

Sri Chinmoy: Es stimmt, dass der Wille des Supreme hinter allem steht; aber wir müssen wissen, was Sein letztendlicher Wille ist und wie viel wir von diesem Willen als unser Eigen annehmen. Er hat uns ein wenig begrenzte Freiheit gegeben, genau wie ein Vater, der seinem Kind zehn Cent gibt, um zu sehen, wie es damit umgeht. Setzt es das Geld sinnvoll ein, schenkt ihm der Vater mehr – zuerst fünfzig Cent, dann einen Euro, usw.
Gott gesteht uns begrenzte Freiheit zu, um zu sehen, ob wir auch wirklich das Richtige tun wollen. Wir sollten damit sehr sorgsam umgehen. Sein Wille ist in uns und daher besitzen wir die Fähigkeit, die zehn Cent, die Er uns gegeben hat, vernünftig einzusetzen. Da wir aber auf die Entwicklung unseres eigenen Egos und unserer eigenen Persönlichkeit bedacht sind, versuchen wir, diese zehn Cent auf unsere eigene Weise einzusetzen, anstatt in uns zu gehen, um herauszufinden, für welchen Zweck Er uns dieses Geld gegeben hat. Sobald Er uns etwas gibt, wollen wir es sofort verschwenden. Gebrauchen wir es aber nach Seinem Willen, dann wird Er uns immer mehr geben.
Gott gab uns Freiheit, damit wir uns daran erfreuen. Wenn Er zu uns sagt: „Ich habe dir einen Euro gegeben. Nun erwarte ich, dass du ihn ausschließlich zu diesem oder jenem Zweck verwendest“, dann schenkt uns dieses Geld keine Freude, weil wir uns zu etwas gezwungen fühlen. Sagt Er hingegen: „Ich habe dir etwas gegeben und du kannst es nach eigenem Gutdünken verwenden“, dann missbrauchen wir es. Sind wir weise, so werden wir erkennen, dass wir noch viel mehr von Ihm erhalten werden, wenn wir es Seinem Willen gemäß verwenden.
Gott gibt uns einerseits etwas, andererseits prüft Er uns. Gleichzeitig inspiriert Er uns im Inneren dazu, das Richtige zu tun. Da wir jedoch unsere Individualität und Persönlichkeit nicht aufgeben wollen, versuchen wir das Erhaltene auf unsere Weise zu verwenden. Wir gebrauchen unseren eigenen sehr begrenzten Willen. Was kann der arme Gott dagegen tun? Nur wenn wir unseren Willen Seinem Willen unterstellen, sind wir sicher und erfüllt.


Jedes Mal,
wenn ich mich freudig
Gottes Willen hingebe,
erblicke ich vor mir
eine schnurgerade, wunderschöne Straße,
die zur Heimstatt
meines geliebten Supreme führt.