Ego ist Emotion und Emotion ist Ego. Ego und Emotion sind die Vorder- und Rückseite der selben Münze. Es gibt zwei Arten von Ego: Das eine Ego ist selbst-bindend, selbst-zentriert. Das andere Ego ist selbst-transzendierend und allumfassend. Das selbst-zentrierte Ego muss in das selbst-transzendierende, allumfassende und Gott-erfüllende Ego verwandelt werden. Dieses selbst-transzendierende Ego ist das Wissen um das Einssein, um das untrennbare Einssein mit dem Unendlichen, dem Ewigen, dem Absoluten und dem Unsterblichen.
In dieser Welt besitzt der Mensch zwei bedeutende Dinge: Intelligenz und Emotion. Diese beiden Besitztümer beherrschen unser alltägliches Leben. Wir bemerken jedoch sehr oft, dass Emotion die Oberhand in unserem Leben gewinnt. Wir wissen, dass, selbst wenn jemand äußerst intelligent ist, seine Emotion ihn verschlingt, sobald sie hervorkommt. Er ist gezwungen zu tun, was immer seine Emotion von ihm will.
Das menschliche Bewusstsein befasst sich mit Emotion in ihren zwei verschiedenen Aspekten. Die eine Art von Emotion ist unrein, unerleuchtet und dunkel. Die andere ist rein, göttlich und all-erfüllend. Die Folge von unreiner Emotion ist Furcht. Die göttliche, reine Emotion aber bringt uns unmittelbar zu Gott.
Manchmal ist Emotion erfüllend und manchmal nicht. Menschliche Emotion bindet uns; göttliche Emotion befreit uns. Mit der menschlichen Emotion wollen wir im Endlichen und für das Endliche verbleiben. Mit der göttlichen Emotion wollen wir im Unendlichen verweilen, für das Absolute.
Es gibt zwei Arten, sich Gott zu nähern. Die eine Art ist durch menschliche Emotion, durch Furcht. Wir können denken: „Gott ist allmächtig. Wenn wir etwas falsch machen, wird Er uns bestrafen. Wir sollten lieber versuchen, Ihn jetzt zufrieden zu stellen, da wir schon unzählige Male himmelschreiende Fehler begangen haben. Das Beste ist, Ihn zufrieden zu stellen.“ Dies ist die Annäherung an Gott durch Furcht. Der andere, bei weitem bessere Weg ist, unser Einssein mit Gott durch göttliche Emotion zu fühlen. In diesem Fall sagen wir: „Gott ist Licht. Ich kam von Ihm. Ich existiere auf Erden einzig für Ihn.“ Menschliche Emotion basiert auf Unreinheit, Dunkelheit, Unvollkommenheit, Begrenzung, Gebundenheit und Tod. Göttliche Emotion ist gegründet auf Reinheit, wirklicher Nähe zu Gott, einem göttlichen Gefühl des Einsseins und der Gewissheit, dass Gottverwirklichung unser Geburtsrecht ist.
In unserem alltäglichen Leben drücken wir Emotion durch Hingabe aus. Wir geben uns einer Sache oder einer Person oder einem Gegenstand hin. Wenn wir unsere Emotion gewöhnlichen Menschen in Form von Hingabe darbringen, ist sie reines Verhaftetsein. Wenn wir jedoch unsere Emotion in Form von Hingabe Gott oder unserem spirituellen Meister, der Gott verwirklicht hat, darbringen, dann ist dies reine, göttliche Hingabe. Zu diesem Zeitpunkt fühlen wir unser Einssein mit der höchsten Wirklichkeit.
In unserem täglichen Leben drücken wir Emotion – oder das Ego – jedem Menschen gegenüber unterschiedlich aus. Wir bringen unsere Emotion unserem Vater in der einen Weise dar, unserer Schwester in einer anderen Weise und unserem Freund oder unserer Freundin noch einmal völlig anders. Wir bringen unsere Emotion dar gemäß unserer Fähigkeit, und Andere empfangen unsere Emotion gemäß ihrer Empfänglichkeit. Jedes Individuum muss Emotion darbringen. Für Andere mag es unwesentlich sein, ob sie unsere Emotion empfangen oder nicht. Was ist der menschliche Vater? Er ist ein Individuum. Was ist die menschliche Mutter? Sie ist ein Individuum. Was ist der menschliche Bruder? Er ist ein Individuum. Wir müssen unsere Emotion einer individuellen Person gegenüber auf eine spezielle Art ausdrücken. Wenn wir es aber mit Gott zu tun haben, verhält es sich völlig anders. Gott ist unser Vater, unsere Mutter, unsere Schwester, unser Bruder, unser Freund; Er ist alles. Zu Gott können wir alle Beziehungen haben. Mit Ihm gibt es keine Gebundenheit. Wenn wir mit Gott verkehren, können wir Ihm unsere göttliche Emotion, unsere reine Emotion darbringen. Doch auch wenn wir Ihm unsere unreine, begrenzte Emotion darbringen, nimmt Gott sie an. Er erleuchtet unsere begrenzte, erdgebundene, unerleuchtete, dunkle, unreine Emotion und verwandelt sie in göttliche, reine, grenzenlose Emotion.
Um den bedeutendsten Fortschritt zu machen, sollten wir uns Gott durch Reinheit, Aufrichtigkeit, Demut und dem Gefühl inneren Einsseins nähern. Der andere Zugang, durch Furcht, führt sehr oft zu Frustration, da wir so in jedem Augenblick das Gefühl haben, dass wir weitere Fehler begehen werden, dass wir weitere Schnitzer machen werden. Dann zögern wir, uns Gott überhaupt zu nähern. Und wenn wir dann einen Fehler begehen, bitten wir Gott um Vergebung. Danach, sobald wir fühlen, dass Gott uns vergeben hat, verspüren wir eine gewisse Erleichterung, wir entspannen uns und machen erneut Fehler. Im menschlichen Leben machen wir dauernd Fehler, und wir haben dauernd Angst, dass Gott uns bestrafen wird. Aber Gott will uns nicht bestrafen. Nur weil man etwas falsch gemacht hat, braucht Gott einen nicht unbedingt zu bestrafen. Nein, Er wird sehen, wie aufrichtig man das innere Leben, das spirituelle Leben will, und wie schnell man seinem Ziel entgegen laufen will.
Gott ist sowohl unser Vater als auch unsere Mutter; unser göttlicher Vater und unsere göttliche Mutter. Im Westen ist Gott der Vater vorherrschend, während im Osten, besonders in Indien, Gott die Mutter zuerst kommt. Jesus, der Sohn Gottes, verwendete stets den Begriff ‚Vater‘. Er sagte: „Ich und mein Vater sind Eins.“ Hier im Westen kommt der Vater zuerst. Doch Gott ist ebenso unsere Mutter. In Indien ist das Gefühl für Gott als Mutter sehr stark. Für den großen spirituellen Meister Sri Ramakrishna war Gott Mutter Kali. Und als Indiens erster Avatar, oder direkte Herabkunft Gottes, Sri Ramachandra gegen den mächtigen Dämon kämpfen musste, rief er Durga, die göttliche Mutter an. Die meisten spirituellen Meister Indiens haben Gott die Mutter angerufen, während wir im Westen Gott den Vater anrufen. Sowohl der Westen als auch der Osten haben vollkommen recht. Wenn wir Gott den Vater verwirklichen, kommen wir nicht umhin, Gott die Mutter in Ihm zu sehen. Wenn wir Gott die Mutter verwirklichen, werden wir unverkennbar Gott den Vater in Ihr sehen. Wir wollen Gott den Vater und Gott die Mutter verwirklichen. Wie können wir das schaffen? Es gibt zwei bedeutende Wege. Der eine Weg ist durch Gebet, seelenvolles Gebet, inneres Gebet, ständiges Gebet. Der andere Weg ist durch entschlossenen Willen, eisernen Willen. Im Osten benutzen wir die Willenskraft, doch vor der Willenskraft benutzen wir noch etwas anderes. Wir spüren, dass wir Willenskraft durch Konzentration und Meditation erhalten. Wir konzentrieren uns, meditieren und kontemplieren, um Willenskraft zu erlangen.
Im Westen ist Gebet von größter Wichtigkeit, und Gebet führt uns in der Tat zu Gott. Doch während wir beten, müssen wir extrem vorsichtig sein. Sehr oft ist unser Gebet an Gott nicht seelenvoll. Es gibt eine Neigung zu bewusstem Verlangen in unserem Gebet. Wenn wir mit gefalteten Händen beten, sagen wir oft: „Gott, bitte gib mir dies, bitte tu dies!“ Es ist ein Gefühl des Verlangens in unserem Gebet. Nun müssen wir wissen, dass, wenn wir etwas begehren, wir uns wie ein Bettler verhalten. Einerseits sagen wir, wir seien Gottes Sohn, Gottes Kind, und andererseits betteln wir wie ein Waise. Dies ist der Grund, warum es im Westen häufig vorkommt, dass unser Gebet zu Gott nicht seelenvoll, mit einem Gefühl des Einsseins, ist. Was wir machen, ist, wir betteln Gott an. Dieser Akt des Bettelns entfernt uns von unserem liebsten, süßesten Vater. Wenn wir jedoch seelenvoll, bedingungslos, vorbehaltlos beten können, werden wir definitiv das Höchste, das Absolute verwirklichen.
Wie ich bereits sagte, erhalten wir aus der Konzentration, der Meditation und der Kontemplation göttliche Willenskraft. Willenskraft lässt uns einem Prinzen gleichen, während Gebet, wenn es nicht seelenvoll ist, uns einem Bettler gleichen lässt. Natürlich werden wir, wenn wir Willenskraft auf eine falsche Art und Weise benutzen, uns wie ein wildgewordener Elefant benehmen. In diesem Fall gibt es keine göttliche Dynamik in unserer Willenskraft; sie ist dann reine Aggression. Doch wenn wir Willenskraft richtig anwenden, auf göttliche Weise, dann werden wir handeln wie ein göttlicher Prinz. Ein göttlicher Prinz weiß, dass ihm die Göttlichkeit – die wirkliche Wirklichkeit in ihm – zur Verfügung steht. Er fühlt außerdem, dass seine innere Göttlichkeit begierig ist, ihn zu treffen und ihm zu Hilfe zu kommen. Kraft seines Strebens geht er begierig tief nach innen, und seine innere Göttlichkeit versucht beständig, hervorzukommen. Dies ist was geschieht, wenn wir unsere göttliche Willenskraft einsetzen.
Willenskraft hat außerdem die Fähigkeit, uns fühlen zu lassen, dass Gott uns bereits mit einer Fülle von Inspiration und Streben ausgestattet hat, um Ihn zu verwirklichen. Er wird kommen und direkt vor uns stehen, vorausgesetzt, wir nehmen Ihn in Seiner eigenen Weise an. Doch wenn wir beten, neigen wir dazu, Ihn auf unsere eigene Weise zu suchen, der Weise, die uns passt. Wir sagen: „Gott, ich brauche Dich, ich brauche Dich! Früh am Morgen werde ich zu Dir beten. Bitte komm und steh vor mir!“ Doch mit göttlicher Willenskraft tun wir das nicht. Die göttliche Willenskraft sagt: „Ich setze meinen inneren Willen ein, um meine Göttlichkeit hervorzubringen. Hier endet meine Rolle. Meine Göttlichkeit muss auf ihre eigene Weise kommen, zu ihrer eigenen auserwählten Stunde.“ Hier gibt es kein Betteln. Hier sagen wir: „Ich biete meine Fähigkeit, mein Licht an; möge die Göttlichkeit in mir sich auf ihre eigene Weise erfüllen.“
Wenn wir uns Gott dem Vater nähern, fühlen wir Seine Weisheit, Sein inneres Licht, Seine Weite. Wenn wir uns Gott der Mutter nähern, fühlen wir unendliche Liebe, unendliches Mitleid, unendliche Sorge. Es ist nicht so, dass Gott der Vater kein Mitleid hätte. Er hat es ebenfalls. Doch Gott drückt Liebe, Mitleid und Sorge mehr durch die weibliche Form aus als durch die männliche Form. In der männlichen Form bringt Er Weisheit, Licht, Weite dar. Jede dieser göttlichen Eigenschaften – Liebe, Mitleid, Sorge, Weite, Licht und Weisheit – ist von enormer Bedeutung im Leben jeder strebenden Seele. Wenn wir in den verborgensten Winkeln unseres Herzens Gottes Liebe, Sorge und Mitleid fühlen, und Seine Weisheit, Sein Licht und Seine Weite, so wissen wir, dass der unerfüllte Mensch von heute sich bald verwandeln wird in den verwirklichten, erfüllten und manifestierten Gott von morgen.
26. Oktober 1974
University of Minnesota
Minneapolis, Minnesota